Als die kommunale Demokratie erfunden wurde, hatten ihre Urväter eine ganz besondere Idee im Kopf: das Volk sollte seine Vertreter frei wählen dürfen. Das ist der Rat.
Jetzt lag dem Rat ein Vorschlag auf dem Tisch, einen Bürgerrat einzurichten. In der Vorlage der Verwaltung heißt es dazu:
Gleichwohl lässt sich ein anhaltender Trend feststellen, dass sich die Bürgerschaft auch außerhalb dieser legitimierten Strukturen eine Beteiligung wünscht. Insofern ergibt sich durch einen Bürgerrat die Möglichkeit für die kommunalen Gremien, sich partnerschaftlich im wahrsten Sinne des Wortes „Rat“ zu holen und diesen in den Entscheidungsprozess mit einfließen zu lassen, in zustimmender oder ablehnender Weise.
Es ist sicher nicht vermessen zu sagen, dass kommunalpolitisches Engagement von außerhalb der Parteien und Fraktionen ein hoch zu begrüßendes Stück Demokratie ist. Jeder, der sich Gedanken über kommunale Prozesse und Entscheidungen macht, tut etwas Gutes.
Doch wie werden die Mitglieder des Bürgerrates ausgesucht? Auch dazu hat die Verwaltung eine (natürlich nicht selbst erfundene) Idee:
Sobald ein Thema festgelegt wurde, steht die Auswahl von Bürgerinnen und Bürger an. Diese werden in einem mehrstufigen Prozess zunächst über eine Zufallsstichprobe aus dem Einwohnermelderegister ausgewählt und zur Mitarbeit eingeladen. Die ausgewählten Bürgerinnen und Bürger erhalten daraufhin ein Anschreiben mit Bitte um Rückmeldung hinsichtlich der Bereitschaft der Teilnahme mit gleichzeitiger Erhebung von soziodemografischen Daten. Welche Daten erhoben werden, muss im Vorfeld festgelegt werden, da danach im zweiten Schritt die Zusammensetzung des Bürgerrates erfolgen soll. Es ist hier von einem Rücklauf von ca. 3 % auszugehen. Dies bedeutet, dass beispielsweise bei einer gewünschten Teilnehmerzahl von 30 Personen eine Auswahlmasse von 1.000 Bürgerinnen und Bürgern notwendig sein wird. Die Definition von soziodemografischen Gesichtspunkten ist wichtig, da der Bürgerrat ein möglichst repräsentatives Abbild der Siegener Stadtgesellschaft wiedergeben soll. Bei einer reinen Zufallsauslosung oder Interessensabfrage wäre dies jedoch nicht gegeben. Soziodemografische Merkmale könnten für die Auswahl z. B. Geschlecht, Altersgruppe, Bildungsstand, Stadtteil, Migrationshintergrund usw. sein.
Es sieht also so aus, als wenn im Bürgerrat ein möglichst hohes Maß an Repräsentativität erreicht werden sollte. Ein viel höheres Maß an Repräsentativität als der gewählte Rat, in dem alte, weiße Männer gegenüber etwa den Gruppen der Arbeiter, Frauen und Migranten deutlich überrepräsentiert sind. Nur: Was macht dann unser durch demokratischen Prozess legitimiertestes Gremium überhaupt, der Rat? Und ist es nicht eher so, dass mit jedem Zuwachs an Repräsentativität auch eine Legitimationskonkurrenz entsteht – wer kann dann von sich eher behaupten, dass er den Willen des Volkes hinter sich hat? Dass also, konkret formuliert, folgendes eintritt: Je repräsentativer der Bürgerrat wird, desto stärker wird auch der Druck auf den demokratisch gewählten Rat, nicht nach bestem Wissen und Gewissen, sondern einem algorithmisch bestimmten Bürgerrat zu folgen.
Moment – wer ist denn jetzt der Rat? Die vom Algorithmus bestimmten, soziodemographisch perfekt ausbalancierten Siegenerinnen und Siegener oder die gewählten Siegenerinnen und Siegener, die die reale Bevölkerung soziodemographisch kaum widerspiegeln?
Was sagt die Politikwissenschaft?
Manuela Glaab unterscheidet Modelle zwischen dem individuellen Nutzen, also der Information und Qualifizierung der Bürger, der öffentlichen Meinungsbildung in der Diskussion, der Konsenssuche und Expertise bis hin zur Mitentscheidung – vier doch recht unterschiedliche Modelle, deren Realisierung auch zum Teil Grenzen durch die Gemeindeordnung gesetzt werden. Wo genau der Siegener Bürgerrat angesiedelt werden soll, darüber gibt die Vorlage der Verwaltung keine klare Auskunft. Alles ist offen – bzw. von der Zuarbeit der Verwaltung abhängig.
Bürgerinnen und Bürger leisten politischen Input – in Form von Forderungen und Unterstützung – neben zivilgesellschaftlichen und anderen Interessenorganisationen. Gewählte Repräsentanten und staatliche Institutionen nehmen diesen Input auf und verarbeiten ihn im politischen Entscheidungssystem (Throughput) zu Maßnahmen und Entscheidungen (Output), Innovative Formen der Bürgerbeteiligung Welche Potenziale und Grenzen beinhalten Bürgerräte? Legitimitätsgewinne durch Bürgerbeteiligung lassen sich theoretisch in allen drei Dimensionen erwarten.
Bürgerbeteiligung soll die Input-Legitimation von Politik stärken. Man sagt also, dass Wählen alleine nicht reicht. Dumm nur, dass die Parteien ihre ganz am Anfang des Parteiengesetzes festgeschriebene Rolle als Scharnier zwischen Volk und Staat nicht mehr so richtig erfüllen können. Dafür spricht, dass wir keine Volksparteien mehr haben, sondern Parteien, die aus ihrer Tradition heraus glauben, sie seien noch Volksparteien.
Es geht unter dem Stichwort Throughput aber auch um die Information und Einbeziehung von Bürgern in politische Prozesse mit dem Ziel, dass diese politischen Prozesse stärker legitimiert werden. Heißt: Prozesse und Machenschaften im Dunkeln sollen nicht sein, jeder soll die Möglichkeit haben, seiner Verwaltung und seiner Politik auf die Finger zu schauen – bevor Entscheidungen im Hinterzimmer getroffen werden.
Zum Output: Wenn Bürger in die Lage versetzt werden sollen, Politik mitzubetreiben, ohne vorher auf die Ochsentour durch die Parteien zu gehen, soll es bessere und einfachere Lösungen für politische Probleme geben. Eine vielfältigere Sicht auf Probleme kann ja nicht schaden. Es ist ja schließlich nicht so, als wenn jeder Bürger 10, 20 oder gar 30 Stunden pro Woche investieren kann. Dummerweise kostet es aber manchmal 10, 20 oder 30 Stunden, wenn man sich einarbeiten will, um ein Thema qualifiziert und verantwortungsvoll zu bearbeiten. Bürgerräte sind also ein zweischneidiges Schwert. Sie können wertvolle Impulse an die Kommunalpolitik geben, sie können neue, ehrenamtliche Kommunalpolitiker gewinnen. So weit, so prächtig. Sie können aber auch eine nicht demokratisch legitimierte Konkurrenzveranstaltung werden und sind noch anfälliger für Einflüsterungen von interessierter Seite als ein kommunales Gremium. Denn was tut man zum Beispiel, wenn der Algorithmus einen aktiven Kommunalpolitiker in den Bürgerrat lost, oder womöglich einen überaus engagierten Rechtsextremen, der dann mit seinem Hintergrund die „Neulinge“ steuert?
Sollte man also Bürgerräte einrichten?
Kommunalpolitik sollte im allerersten Schritt kritisch auf sich selbst sehen und überlegen, wie es mit ihrer eigenen Bürgernähe, Transparenz und Offenheit aussieht, wenn sie gezwungen wird, über die Notwendigkeit von Bürgerräten nachzudenken. Ein Bürgerrat wird umso nötiger, je schwächer und weniger aufnahmebereit die Kommunalpolitik ist.
So gesehen müssten wir in Siegen allerdings dringend Bürgerräte einrichten.
Die Stadt Siegen sollte auch ihre Ratssitzungen im Internet übertragen. Doch auch hier: Ein Scheinangebot. Ein Windei. Voraussetzung wäre ja doch, dass man bei den behandelten Themen Transparenz her- und Informationen bereitstellt, damit man als unvorbereiteter Zuschauer nicht ohne Detailkenntnisse des Beratungsgegenstandes hilflos im Gewirr der Ratsdiskussionen zurückbleibt. Ein solches Informationsangebot ist aber ebenso wenig vorgesehen wie der Transparenzaspekt bei den Bürgerräten (sie werden auch im Verwaltungsoriginal nicht gegendert). Insofern bedürfte es eher einer strategischen Überlegung, wie man Kommunalpolitik bürgergerecht gestaltet, statt mehr oder weniger bunte Bildchen ohne Erklärung zu produzieren.
Kernproblem ist, dass die kommunale Demokratie derzeit gerade für Newbies kaum durchschaubar und ebenso wenig entwirrbar ist. Das wird sich mit den Bürgerräten nicht ändern, ebenso wenig durch Rats-TV. Es gibt wenige Anzeichen dafür, dass sich daran etwas ändern wird. Die jetzt beschlossene Einführung eines Bürgerrates ist das Angebot einer Scheinpartizipation. Ein Feigenblatt.
